Photo: Albin Hillert/CEC
Cornelia Kästner-Meyer
Leitende Kommunikationsreferentin des Lutherischen Weltbundes
Prof. Dr. Hartmut Rosa, Professor der Soziologie and der Universität Jena, Wachstumskritiker und einer der Hauptredner bei der KEK-Generalversammlung 2023, skizzierte die mögliche Rolle der Kirchen in einem von zwanghafter Beschleunigung geprägten Europa.
Die Generalversammlung der KEK findet vom 14. bis 20. Juni in Tallinn, Estland, statt und befasst sich mit dem Thema „Unter Gottes Segen – die Zukunft gestalten“.
Rennen, um mitzuhalten
Zu Beginn skizzierte der Jenauer Soziologe die gesellschaftliche Situation in Europa mit dem Begriff des „atemlosen Stillstands“: ständige Steigerung auf allen Ebenen, nicht um Innovation zu schaffen, sondern um den Status quo aufrechtzuerhalten. Am Beispiel der Lebensmittelindustrie erläuterte er die Paradoxie dieses Wachstumszwangs. Weil die Firmen ihren Umsatz über den eigentlichen Bedarf hinaus steigern müssen um konkurrenzfähig zu bleiben, werden Enzyme in Fertiggerichte eingearbeitet, um das Sättigungsgefühl auszuschalten.
Auf der Makroebene verursacht dieses System Umweltverschmutzung und Umweltprobleme; auf der Mikroebene Aggression und Burnout. Rosa verwies auf die Zunahme psychischer Erkrankungen und die steigende Suizidrate bei jungen Menschen, die den Stress der ständigen Beschleunigung nicht ertragen könnten. Er brachte auch den zunehmend aggressiven Ton in der Politik und den Aufstieg des Populismus mit dem beschleunigten Wachstum in Verbindung. Isolationismus, Reduktion von Komplexität und schwarz-weiss-Denken sind fast logische Konsequenzen bei ständiger überforderung. „Wir müssen jedes Jahr schneller rennen, um das zu behalten, was wir haben“, sagte Rosa. „Mit diesem Modell verlieren wir unsere Zukunft und unsere Vergangenheit.“
Als Reaktion darauf schlug Rosa ein alternatives Modell der „Resonanz“ vor. Bezugnehmend auf die biblische Geschichte von König Salomo sprach Rosa über ein „hörendes Herz“. „Resonanz entsteht, wenn man aus diesem Beschleunigungsmodus herauskommt, weil einen etwas berührt und man darauf reagiert“, erklärte Rosa. „In diesem Prozess verändern wir uns, wir bleiben nicht gleich.“
Kirchen können Motoren eines resonanten Europas sein
An dieser Stelle sieht der deutsche Soziologe einen besonderen Wert von Kirchen und Religionsgemeinschaften, denn berufen, berührt, inspiriert und verwandelt zu werden, ist ein zutiefst theologisches Konzept. „Als Menschen erleben wir manchmal Resonanz, aber Religion und Kirchen sind erfahren darin, diesem Gefühl der Verbundenheit mit etwas Höherem einen Rahmen zu geben“, sagte Rosa. Trotz der „Nichtverfügbarkeit“ von Resonanz – was bedeutet, dass sie nicht geplant, programmiert oder gekauft werden kann – bieten Kirchen physische Räume und Praktiken, die zu transformativen Erfahrungen einladen.
„Die Kirchen könnten die Motoren für dieses resonante Europa sein“, schlussfolgerte Rosa.
Als Reaktion darauf forderte Bischof Kari Mangrud Alsvåg von der norwegischen Kirche die Kirchen auf, sich an die Seite von Menschen zu stellen, die sich von der aktuellen Gesellschaft entfremdet fühlen. Kirchen sollten selbst offen für Veränderungen sein, indem sie auf Privilegien verzichten und „vielleicht mit Freude und nicht mit Wut und Aggression schrumpfen“.
Prof. Peter Kratochvil von der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (Tschechien) betonte eine Warnung aus Rosas Rede, nämlich dass Resonanz nicht geplant und auf Knopfdruck hergestellt werden kann. Die Erfahrung, berührt zu werden, ist spontan. „Wenn die Kirche bereits weiß, was richtig und was falsch ist, wird sie zum Resonanzkiller“, zitierte er.
Lesen Sie hier das Originalreferat auf Deutsch (Link to presentation in German)